10 декември 2008

Ritt in die Schuldenwirtschaft

10. Dezember 2008, 12:48 Uhr

Von Wolfgang Kaden

Millionen, Milliarden, Billionen: Die staatlichen Rettungspakete infolge der Finanzkrise erreichten im Jahr 2008 Rekordhöhen. Dabei wird übersehen, dass die Schuldenfehler früherer Zeiten mit neuen Schulden behoben werden sollen - eine fatale Entwicklung für die Zukunft.

Von Eugen Schmalenbach, dem Urahn der Betriebswirtschaftslehre, stammt der Spruch: "Auf Schulden reitet das Genie zum Erfolg". Ein schöner Satz, der gerade in den vergangenen turbulenten Monaten Trost spenden könnte. Wenn da nicht ein kleiner Schönheitsfehler wäre: Es gibt leider zu wenig Genies.

Schulden, Schulden, Schulden - wann immer man in den vergangenen unwirtlichen Wochen die Zeitung aufgeschlagen hat, fielen sie uns an. Erst die Milliarden und Abermilliarden an faulen Krediten, die von den Bankern angesammelt und abgeschrieben wurden. Und nun die Regierungen rund um den Globus, die so richtig in die Vollen gehen und Geld, das sie gar nicht auf den Konten haben, zur Rettung dieser Institute im Speziellen und der Wirtschaft im Allgemeinen auswerfen.

2008 wird damit als ein Jahr der Zäsur in die Wirtschaftshistorie eingehen: Die Marktwirtschaft wird endgültig zur Schuldenwirtschaft deformiert, nach der privaten Schuldenorgie nun die staatliche. Das soll das Rezept sein, mit dem wir aus dem Crash einigermaßen heil rauskommen und in eine bessere, eine halbwegs sichere Zukunft marschieren. Man muss nicht unbedingt Ökonomie studiert haben, um von Zweifeln an der Sinnhaftigkeit dieser Form des Wirtschaftens heimgesucht zu werden.

John Maynard Keynes, dessen Lehren für viele nur noch wissenschaftshistorischen Wert besaßen, erlebte in den vergangenen Monaten ein strahlendes Comeback. Dass ein Gemeinwesen wie das deutsche just in den siebziger Jahren, als Ankurbelungsprogramme à la Keynes das konjunkturelle Auf und Ab überwinden sollten, in den Schulden zu versinken begann; dass es nie gelang, nach Phasen konjunkturell veranlasster Ausgabenorgien auf Sparsamkeit umzuschalten, um die Schulden schnellstmöglich wieder abzutragen – all das ist vergessen. Es wird nach der bewährten Devise gehandelt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: Die Schuldenkrise soll durch neue Schulden zugeschüttet werden.

"Man verliert das Gefühl für Summen, wenn man in diesem Beruf arbeitet", hatte Jérôme Kerviel vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt, jener
Pariser Jungbanker, der bei der französischen Société Générale zu Beginn dieses für die Finanzbranche denkwürdigen Jahres knapp fünf Milliarden Euro verspielt hatte. Inzwischen scheint es, als habe die gesamte zivilisierte Welt das Gefühl für Summen verloren.

Wissen wir eigentlich noch, wie viel eine Milliarde ist, egal ob in Dollar, Euro oder Yen? Erst meldete der von Washington gerettete Versicherungskonzern AIG Mitte September einen Bedarf von 85 Milliarden Dollar an, die der Staat garantieren sollte. Inzwischen sind es 150 Milliarden. Die Citigroup wurde Ende November mit 300 Milliarden aufgefangen. Es kommt ja nicht mehr darauf an. Zwischendurch legte die Bush-Regierung ein 700-Milliarden-Programm auf, für Kapitalbeteiligungen an Banken und für Bürgschaften; inzwischen werden Zweifel laut, ob das reichen wird. Der künftige Präsident Obama will noch einmal ein 700 Milliarden Dollar teures Konjunkturprogramm obendraufpacken.

Die deutsche Regierung wollte da nicht kleinlich sein und brachte ein 480-Milliarden-Euro-Programm innerhalb einer Woche durch das Parlament. Nur zum Vergleich: Der gesamte Bundeshaushalt 2008 ist gerade mal 283 Milliarden Euro groß. Das Konjunkturprogramm mit dem Einsatz von zwölf Milliarden Euro und einer erhofften Anstoßwirkung von 50 Milliarden Euro wird da von vielen als zu bescheiden kritisiert. Es sind Summen, die nicht nur das Vorstellungsvermögen biederer Bürger sprengen.

Und dennoch soll all das Geld notwendig sein, um den ganz großen Kollaps, die globale ökonomische Apokalypse zu verhindern. Sicher, es gibt keinen Grund, den Marktfundamentalisten zu spielen. Denn ja, die Bankenbeteiligungen wie die Bürgschaften müssen sein. Einen Zusammenbruch des Geldwesens kann niemand verantworten. Und wahrscheinlich erzwingt auch der dramatisch schnelle Niedergang in der Realwirtschaft, dass die Staaten als Nachfrager der letzten Instanz auftreten; dass sie Konsumenten und Produzenten mit Ankurbelungsprogrammen aus ihrer Schockstarre befreien.

Eine andere Lösung, um dieses Megadesaster zu überwinden, haben wir derzeit nicht. Was, nebenbei, viel über den Forschungsfortschritt in der Wirtschaftswissenschaft während der vergangenen Jahrzehnte aussagt.

Aber es sollte schon - wenn denn die Schuldenmacherei unvermeidlich erscheint - deutlich werden, was hier geschieht: Die Party soll so schnell wie irgend möglich weitergehen, angeheizt mit der Allerweltsdroge neuer Schulden in nie dagewesener Dimension.

Zeit zum Innehalten, zur Besinnung können sich Regierende und Regierte angesichts der heftigen Umbrüche der vergangenen Monate offenkundig nicht nehmen. Verweilen auf dem nie zuvor erreichten Wohlstandsniveau oder vielleicht sogar ein, zwei Prozent darunter – ein Zustand, der mit dem Horrorwort Rezession versehen ist - darf nicht sein. "Grow or perish", sagen die Amerikaner, wachse oder vergehe. Der Ritt auf dem Tiger namens Wachstum muss weitergehen, wo und wie immer er auch endet.


Doch Besinnung wäre wichtig. Es waren ja nicht nur die Kredite an arme amerikanische Hauskäufer, nicht nur unverantwortliche, geldgierige Investmentbanker, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute stehen.

Nennen wir nur mal die Private-Equity-Artisten, die mit ein bisschen Eigen- und ganz viel Fremdkapital ein Unternehmen nach dem anderen aufkauften, und die gar nicht so selten diese Firmen mit einem Haufen Schulden vollpumpten, um sich den Kaufpreis gleich wieder zurückzahlen zu lassen.


Oder jene Hedgefonds-Trickser, die über immer längere Schuldenhebel ihre Geschäfte mit Aktien, Öl oder Weizen betrieben und auf diesen Märkten für verrückte Kursbewegungen sorgten und sorgen.


Forderung nach "Maß und Mitte"


Aber hier geht es nicht nur um verantwortungslose Banker und Fondsspezialisten. Das wäre zu schön und zu einfach. Selbstprüfung ist angesagt für uns alle, für alle Gesellschaften, zumindest die in den Wohlstandsgefilden des Westens und des Fernen Ostens. Es sind Grundhaltungen, in Amerika, in Europa, in Asien, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute stehen. Jene Mentalität, die Wohlstand für unendlich vermehrbar hält, die das Wirtschaftswachstum zur einzigen Messlatte für den Erfolg verklärt. Auch wenn der nur durch Schulden möglich wurde, auf Kosten der Zukunft.


Allen voran gilt das für die USA, die mit einem dreifachen Defizit – Bundeshaushalt, Leistungsbilanz und überschuldete Privathaushalte – seit Jahren weit über ihre Verhältnisse gelebt haben, gefüttert vor allem durch ausländische Kreditgeber. Sie haben der übrigen industrialisierten Welt vorgemacht, wie schöne Wachstumsraten mit gepumptem Geld fabriziert werden. Und nicht wenige bei uns haben neidisch über den Ozean geguckt, vor allem solche aus dem Manager-Establishment, und versucht, es den Amerikanern nachzumachen.


Das ist uns, glücklicherweise, nicht ganz gelungen. Aber manche der Probleme, die sich nun vor unserem Land auftürmen, sind durchaus nicht nur Folgen amerikanischer Hypothekenverbriefungen, sondern hausgefertigt. "Maß und Mitte", die Bundespräsident Horst Köhler in jeder Rede zu den Finanzmärkten derzeit einfordert, waren vielerorts auch in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft verlorengegangen.

Wie anders sollte man Lohnforderungen von acht Prozent (Ver.di) oder gar zehn Prozent noch in diesem Herbst (Eisenbahnergewerkschaft Transnet) einsortieren? Wie anders all jene Top-Manager, die sich seit Jahren ihre Bezüge mit zweistelligen Zuwächsen erhöhen und selbst jetzt noch nicht zu akzeptablen Größenordnungen zurückkehren? Ein Beispiel: Siemens-Chef Peter Löscher wird für das gerade abgelaufenen Geschäftsjahr mit rund zehn Millionen Euro belohnt.

Oder nehmen wir die Autoindustrie, die sich jetzt gern als Opfer der Finanzmarktkatastrophe präsentiert und die sich nicht geniert, staatliche Hilfe einzufordern. Die Strategen dieses bedeutendsten deutschen Industriezweigs haben sich bis vor kurzem darauf verlassen, dass die Verkäufe auch in Zukunft so wunderschön zunehmen würden wie in den vergangenen Jahren – und entsprechend immer noch neue Fabriken gebaut und Montagebänder angelegt.

Volkswagen gab das Ziel aus, bis 2018 doppelt so viele Autos wie heute zu verkaufen. Bei BMW hat sich der Absatz seit 1999 verdoppelt. Nicht zuletzt dank günstiger Leasing- und Kreditverträge, also dank der Schuldenwirtschaft. Derzeit wird fast jeder zweite BMW auf diesem Weg losgeschlagen. Und so sollte es weitergehen.

Geht es aber nicht. Denn wenn wir eine systemische Krise in den vergangenen Monaten erlebt haben und wohl auch noch weiter erleben werden, um einen derzeit gern verwendeten Begriff zu strapazieren, dann nicht nur eine der Geldbranche. Sondern auch eine Krise der Gesellschaft: einer Gesellschaft, die blind dem Wachstumsglauben, dem Beschleunigungs- und Machbarkeitswahn verfallen ist.

Es war nicht die Marktwirtschaft, die versagt hat. Die macht Fehler und kann immer wieder verbessert werden, wie es seit Adam Smith geschieht. Sie ist und bleibt ohne Alternative, mit ihrer Fähigkeit, Nachfrage und Angebot auszugleichen, für grandiose Innovationen zu sorgen, Massenwohlstand zu schaffen.

Es waren Schuldenexzesse, es war Maßlosigkeit, die uns dahin gebracht haben, wo wir an diesem düsteren Jahresausgang stehen. Wenn die private Schuldenwirtschaft nun staatlicherseits mit neuen Pumprekorden fortgesetzt wird, um Schlimmeres zu verhindern, dann muss, wenn diese Krise eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages ausgestanden ist, schnellstmöglich der Hebel wieder umgelegt werden, dann muss Zahltag sein.

Konkret: Der Staat muss Ausgaben kürzen; den Schuldenberg abtragen, anders als in den letzten Jahrzehnten, als immer neue Schulden dazukamen. Die Notenbanken müssen dann umgehend die Zinssätze wieder nach oben schleusen, müssen anders agieren als die US-Notenbank, die nach dem Internet-Crash und 9/11 die Märkte viel zu lange mit billigem Geld überschwemmte.

Weniger konkret, aber nicht minder bedeutsam: Es gilt abzulassen von Wachstumszielen, die mit solider Finanzierung nicht zu erreichen sind; Tempo rausnehmen aus dem globalen Wirtschaftsrad, das sich immer schneller drehte; nachhaltig wirtschaften lernen; oder, altmodisch formuliert, in den Worten Ludwig Erhards: Maß halten.

Die Aussichten, dass die Krise als Chance genutzt wird, sind indes nicht besonders groß. Doch wenn nicht umgedacht wird, dann ist der nächste Crash auch schon nicht mehr weit. Und dann?

Mit Schulden, um Eugen Schmalenbach noch mal zu bemühen, reiten eben nur geniale Individuen zum Erfolg. Nicht ganze Volkswirtschaften und Gesellschaften.

URL:

http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,595109,00.html